VVN-BdA
Stade
Dokumentation
|
Nicht geächtet - sondern geachtet
Der Stader Bürgermeister Hans-Hermann Ott überbrachte im Juni 2002 dem Feinkosthändler Gustav Wolters einen persönlichen Brief vom Bundeskanzler. »Gern erinnere ich mich meiner Besuche bei Ihnen« schrieb Gerhard Schröder und sprach Magda und Gustav Wolters Dank und Anerkennung für deren Lebensleistung aus. Anlass des Briefes war die Geschäftsaufgabe des 94-jährigen Kaufmanns. Gustav Wolters war in Stade ein angesehener Kaufmann. Die Geschäftsräume im stadteigenen Haus, direkt neben dem Rathaus, waren seit 1931 angemietet, und die Geschäftsbeziehungen zur Stadt Stade waren »normal«. Der Laden wurde allerdings über die Jahrzehnte auch von Stader Bürgern gemieden, da Gustav Wolters, wie ältere Stader wussten, »eine schwere Aufgabe im Osten« erfüllen musste.
Wolters ist bereits 1933 in die Allgemeine SS eingetreten. Im März 1940 wurde er zur Waffen-SS nach Krakau eingezogen und versah dann bis September 1940 »Wachdienst« in Warschau. Im Jahr 1941 wurde er bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Hildesheim eingesetzt, bevor er vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1942 beim Polizeireferat des Einsatzkommandos 9 (EK 9) in den besetzten Gebieten der Sowjetunion war. Ab Ende 1942 war Wolters bei der Gestapo in Hannover-Ahlem tätig. Das Einsatzkommando 9 der Einsatzgruppe B wurde kurz vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion aufgestellt. Geeignete Beamte des Sicherheitsdienstes, der Gestapo, der Ordnungs- und Kriminalpolizei wurden in Polizeischulen zusammengezogen, um sie dort für die vorgesehenen Aufgaben ideologisch und militärisch zu schulen. Die Ermordung der jüdischen Landeseinwohner war die Hauptaufgabe der Einsatzgruppen, sie sollten aber auch politische Kommissare, Kommunisten, Geisteskranke und Zigeuner töten. Das EK 9 ermordete allein in den ersten vier Monaten bis zum 26. Oktober 1941 nach eigenen Angaben 11.449 Juden. In den Prozessen gegen die Kommandierenden des EK 9 mussten in den sechziger Jahren auch Angehörige des Mordkommandos aussagen. Der Tagesspiegel aus West-Berlin berichtete am 24. April 1966: »Ein anderer Zeuge danach befragt, auf welche Weise kleine Kinder erschossen worden seien, erwiderte: "Na, wie die Katz." Der Richter starrte ihn an und ersuchte nach einigen Sekunden des Schweigens um nähere Erläuterung. In ruhigem Ton sprach der Zeuge weiter: "Na, sie wurden mit der einen Hand am Genick gepackt und mit der anderen erschossen."« Gustav Wolters war im Polizeireferat des aus etwa 120 Personen bestehenden EK 9 eingesetzt. Das Referat hatte u. a. die Aufgabe, die Juden den jeweiligen Erschießungskommandos zu überstellen, die Opfer der Erschießungen zu registrieren und weiterzumelden. Die Angehörigen des Polizeireferates wurden aber auch als Schützen bei Massenerschießungen von Juden herangezogen. Wolters war während seines Einsatzes beim EK 9 nach eigenen Aussagen bei drei Massenerschießungen als Schütze eingesetzt. Etwa November 1942 wurde Wolters zur Gestapo nach Hannover abkommandiert. Im Polizeiersatzgefängnis Ahlem führte er »Vernehmungen« von Zwangsarbeitern durch. Anfang April 1945, wenige Tage vor Kriegsende in Hannover, beteiligte er sich freiwillig an der Erschießung von 154 Zwangsarbeitern auf dem Seelhorster Friedhof. Der SS-Scharführer Wolters wurde 1947 für diese Morde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits im August 1950 entlassen.
In Stade wurde der NS-Täter nach 1945 von vielen nicht geächtet sondern geachtet. Stader Bürger stellten Wolters nach Kriegsende gute Leumundsbescheinigungen aus, bereits im Jahre 1956 wurde er in die mildtätige St.-Pankratii-Brüderschaft (ein »who is who« der Stader Gesellschaft) aufgenommen, über Jahrzehnte belieferte der Feinkosthändler das Stader Rathaus, und 1994 war er Ehrengast der 1000-Jahr-Feier der Stadt Stade. Bei Geschäftsaufgabe im Jahr 2002 arrangierten Stader Bürger dann den Dankesbrief von Bundeskanzler Gerhard Schröder an den alten Stader Kaufmann. Ein NS-Täter wurde so als vorbildlicher Bürger dargestellt, obwohl führende Stader Lokal- und Bundespolitiker jahrzehntelang über Wolters' NS-Taten informiert waren. Auch ein Jahr nach der Übergabe des Kanzlerbriefes an den Stader Kaufmann herrscht in Stade ein lautes Schweigen über den Umgang mit dem NS-Täter. Die Mehrzahl der Lokalpolitiker ist zu keiner Stellungnahme bereit, die Lokalpresse schweigt sich aus, und die wenigen Kritiker werden öffentlich diffamiert. Das Kanzleramt teilte mittlerweile mit, dass man die Angelegenheit mit »großem Ernst zur Kenntnis genommen« hat, unbekannt ist aber, ob der persönliche Brief an den Feinkosthändler zurückgezogen wurde. Der Feinkosthändler teilte anlässlich der Geschäftsaufgabe über die Tagespresse mit: »Wir sind nicht für große Worte und machen von der Schließung kein Theater, wenn die Leute sagen, "es tut uns Leid" ist das genug.« Ob Gustav Wolters jemals seine NS-Morde Leid taten, ist unbekannt.
Michael Quelle (erschienen in GEW aktuell, Kreisverband Stade, Herbst 2003)
|