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© VVN-BdA Stade
2003
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Das Massaker auf dem Seelhorster Friedhof
Ab November 1942 tat Gustav W. Dienst in der Gestapo-Außenstelle in
Hannover-Ahlem. Er gehörte zur »berüchtigten«
Ausländerabteilung. »Ich wurde jetzt eingesetzt als Sachbearbeiter
für Ausländerangelegenheiten«, gab er selbst an, »das
heißt, ich musste Vernehmungen durchführen von Personen, die sich
des Arbeitsvertragsbruches schuldig gemacht hatten.« Einer seiner
Arbeitsplätze war das Polizeiersatzgefängnis.
»(...) blieben die Zustände in dem Ahlemer Gefängnis
bis zum Schluss verheerend. Mit seinen Funktionshäftlingen, Arbeitskommandos
und täglichen Appellen erinnerte es mehr an ein Konzentrationslager
als an ein Polizeigefängnis. (...) In Ahlem jedenfalls waren Misshandlungen
übelster Art an der Tagesordnung.« Hans-Dieter Schmid: Die
Geheime Staatspolizei in der Endphase des Krieges, in: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht Bd. 51/H. 9, Offenburg 2000, S. 533f
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Am
4. April 1945 traf ein Todesmarsch mit sowjetischen Zwangsarbeitern aus dem
»Arbeitserziehungslager« Lahde in Ahlem ein. Vom Chef der
Gestapoleitstelle kam der Befehl: Alle erschießen, die nach dem Ende
gefährlich werden könnten. Denn das Ende war gewiss. Die US-Armee
kesselte die Stadt bereits ein. SS-Obersturmführer Hans Heinrich Joost,
Führer in Ahlem, war sich bewusst, dass diese Morde in letzter Minute
den Zorn der Sieger erregen würde. Er verzögerte und drückte
sich um den eigentlichen Schießbefehl. 154 Männer und ein russisches
Mädchen von etwa 18 Jahren wurden selektiert.
SS-Ostuf. Joost ließ seinen Leuten die Wahl; wer von ihnen »nicht
die Kraft zur Ausführung dieses Befehls« habe, könne anstandslos
gehen. Einer tat es. Die übrigen bekamen eine Schachtel Zigaretten.
Auch Gustav W., 37 Jahre alt, seit wenigstens vier Jahren im Mordhandwerk.
Er wurde beauftragt, die Grube auf dem Seelhorster Friedhof zu präparieren.
»Wir schaufelten von 6.30 Uhr bis 10.00 Uhr morgens desselben Tages.
Während wir schaufelten, kamen noch 6 Wachmänner an, die aus 3
deutschen Soldaten und 3 Zivilisten bestanden. Die Wachmänner standen
herum, lachten und unterhielten sich. Nachdem die Arbeit beendet war, stellte
man uns zu Vieren in einer Reihe auf, darunter auch das Mädchen. In
jeder Reihe standen die Menschen mit dem Gesicht zum Grabe
gewandt.« Aussage des Gefangenen Peter Palnikow vom 1. Mai 1945
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Am Sonntag, 6. April, wurden die Gefangenen in Gruppen zu 25 auf den Friedhof
geführt. Der dienstälteste SS-Mann gab den Schießbefehl und
die »Fangschüsse«. Die ans Grab tretenden Häftlinge mussten
die vor ihnen gefallenen mit Erde bedecken.
Gustav W. machte bei Joost Meldung. Er berichtete von Komplikationen. Das
russische Mädchen habe einfach nicht sterben wollen. Ein SS-Mann feuerte
einmal, zweimal auf sie, aber erst beim dritten Schuss fiel sie. In dem Moment,
als die Schützen irritiert waren, griff ein 25-jähriger sowjetischer
Hauptmann einen Spaten, schlug den SS-Mann nieder, sprang in den nahen Wald
und entkam.
»Heute wird man sagen müssen, daß Massenerschießungen
wie die auf dem Seelhorster Friedhof zwar auf dem Gebiet des Deutschen Reiches
nicht zu den alltäglichen Vorgängen gehörten; sie bildeten
aber die Praxis der SS, die besonders in den in den besetzten
osteuropäischen Gebieten angewendet wurde. Die Methode der hannoverschen
Erschießung, die Art, wie man die Gefangenen, die das Grab geschaufelt
hatten, zunächst in kleinen Gruppen erschoß, dann in großen
den Rest, nachdem man diesen zunächst im Hintergrund gehalten hatte,
sprechen für eingeübte Routine. Sie ermöglichte es einer relativ
kleinen Wachmannschaft, eine große Zahl von Gefangenen zu töten.
Wenn man sich nach dieser Beobachtung klarmacht, daß mehrere
Angehörige des Erschießungskommandos nach dem Einmarsch in die
Sowjetunion dort bei der Sicherheitspolizei tätig waren - genannt seien
Gustav Wolters und Adolf Methfessel - wird man davon ausgehen
können, daß die im Osten vor allem in den Einsatzgruppen erprobte
Praxis auch in Hannover zur Anwendung kam. Auf dem Seelhorster Friedhof spielte
sich kurz vor dem Kriegsende noch einmal etwas ab, was zur Normalität
der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung in Osteuropa während
des Zweiten Weltkriegs gehört hatte.« Herbert Obenaus: Die
Erschießungen auf dem Seelhorster Friedhof in Hannover April 1945,
in: Hannoversche Geschichtsblätter NF Bd.35, H. 3-4, Hannover
1981, S. 248
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Vier Tage nach dem Massaker nahmen die US-Amerikaner Hannover
ein. Vor laufenden Kameras, in verordneter Anwesenheit gewöhnlicher
Bürger mussten »belastete Nazis« des Massengrab auf der Seelhorst
ausräumen. Weit mehr Leichen als befürchtet wurden geborgen, 526
insgesamt. 386 wurden im Trauerzug zum Maschsee gefahren und am Nordufer
bestattet.
Nach der Kapitulation setzte sich Gustav W. nach Stade ab. Noch im Mai 1945
wurde er verhaftet und in Fallingbostel interniert.
Wegen seiner Beteiligung am Massaker auf dem Seelhorster Friedhof wurde
Gustav W. von einem Militärgericht im Hanover Gestapo Case
N°1 zu 13 Jahren Haft verurteilt.
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Bereits am 13. August 1950 wurde W. entlassen - »wegen guter
Führung« - und kehrte nach Stade zurück.
In Hannover erinnern zwei Gedenksteine, einer am Maschsee und
einer auf dem Seelhorster Friedhof, an die letzte Tat von Gustav W. als SS-Mann.
In Ahlem befindet sich eine
Mahn-
und Gedenkstätte, in der die Verbrechen der
Gestapo dokumentiert werden.
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