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© VVN-BdA Stade
2003
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Geschichte, die nie vergeht...
Ein alter Stader Kaufmann
Der Mietvertrag mit der Stadt Stade lief noch ein paar Jahre, aber die
Geschäfte gingen nicht mehr gut und so entschloss sich Gustav W., sein
Feinkostgeschäft in unmittelbarer Nähe zum Stader Rathaus im Sommer
2002 aufzugeben. Der 94-jährige Kaufmann stand noch bis zuletzt rüstig
hinter dem Verkaufstresen. Eine Geschäftsübergabe an den Sohn oder
die Tochter, die beide im Familienbetrieb mit über 100-jähriger
Tradition beschäftigt waren, hat es nie gegeben. Gustav W. verbreitete
im »Stader Tageblatt« noch: Wir sind nicht für große
Worte und machen von der Schließung kein Theater, wenn die Leute sagen
»es tut uns Leid« ist das genug.
Ein Brief vom Bundeskanzler
Stader Bürger arrangierten bei Geschäftsaufgabe einen
persönlichen Brief von Bundeskanzler Gerhard Schröder an den alten
Kaufmann. Der Brief wurde vom Stader Bürgermeister überbracht.
Gerhard Schröder wurde bei einem früheren Besuch in Stade von Gustav
W. vor seinem Geschäft angesprochen. Als Schröder Jahre später
erneut ins Stader Rathaus kam (jetzt Ministerpräsident von Niedersachsen)
fragte er den Stadtdirektor, ob denn der nette alte Herr von nebenan
noch dort sei. Er war, und Gerhard Schröder besuchte ihn.
Ein Stader SS-Scharführer
Gustav W. ist 1933 in die Allgemeine SS eingetreten. Im März 1940 wurde
er zur Waffen-SS in Krakau eingezogen und versah dann bis September 1940
»Wachdienst« in Warschau. Nach einem kurzen Aufenthalt in Stade
trat er im Januar 1941 seinen Dienst bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo)
in Hildesheim an. Im Mai 1941 erfolgte eine Schulung und er wurde dem
Polizeireferat des neu gegründeten
Einsatzkommandos
9 (EK 9) zugeteilt.
Ende 1942 wurde Gustav W. zur Gestapo Hannover abkommandiert. Er wurde zur
Überwachung von Zwangsarbeitern eingesetzt und führte
»Vernehmungen« durch. Bei Kriegsende war er in der Gestapostelle
Hannover-Ahlem. Im April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, beteiligte er
sich freiwillig an der
Massenerschießung
von 154 Zwangsarbeitern auf dem Seelhorster Friedhof in Hannover. Gustav
W. wurde 1947 für diese Morde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt.
Am 13. August 1950 wurde er wegen guter Führung begnadigt.
Mordkommando EK 9
Die Einsatzkommandos wurden im Mai 1941, kurz vor Beginn des Krieges gegen
die Sowjetunion, aufgestellt. Politisch zuverlässige Beamte des
Sicherheitsdienstes, der Gestapo, der Ordnungs- und Kriminalpolizei wurden
in Polizeischulen zusammengezogen, um sie dort für die vorgesehenen
Aufgaben ideologisch und militärisch zu schulen. Die Tötung der
jüdischen Landeseinwohner war die Hauptaufgabe der Einsatzkommandos,
sie sollten aber auch politische Kommissare, Kommunisten und Zigeuner ermorden.
Dr. Filbert, der erste Leiter des aus etwa 120 bis 150 Personen bestehenden
EK 9, unterrichtete Ende Juni 1941 die Angehörigen des EK 9 darüber,
dass alle Juden in den jeweils vom Kommando besetzten Gebieten zu
erschießen seien. Filbert erklärte später vor Gericht: Jeder
Angehörige des Kommandos mußte wenigstens einmal an einer
Erschießung teilnehmen. Es gab keinen, der sich ausschließen
konnte.
Gustav W. gehörte dem Polizeireferat des EK 9 an. Das Referat hatte
die Aufgabe, die Juden den jeweiligen Erschießungskommandos zu
überstellen, die Opfer der Erschießungen zu registrieren und
weiterzumelden. Die Gestapobeamten aus dem Polizeireferat, unter ihnen Gustav
W., wurden im August 1941 als Schützen bei einer Massenerschießung
von Juden herangezogen. Bis zum 26. Oktober 1941 wurden vom EK 9 insgesamt
11.449 Juden erschossen. In Westberlin fanden vor dem Landgericht 1962 und
1966
Prozesse
gegen die Kommandierenden des EK 9 statt. Angehörige des Mordkommandos
mussten in diesen Prozessen Aussagen.
Die »Neue Zeit« aus Berlin-Ost berichtete am 5. Juni 1962 unter
der Überschrift »Auch Kleinkinder ermordet« folgendes über
den Prozess gegen Filbert: Die Mordtaten waren mit bürgerlicher
Pedanterie genau reglementiert. Wie der frühere SS-Scharführer
Gustav Wolters vom Polizeireferat des Einsatzkommandos 9 - heute wohlbestallter
Kaufmann in Stade - aussagte, war der Gang der Dinge folgender: Jeden Abend
hing in den Unterkünften der Dienstplan mit den Namen derjenigen aus,
die am nächsten Tag an den Mordaktionen teilzunehmen hatten.
Der »Tagesspiegel« aus Berlin-West berichtete am 24. April
1966: Ein anderer Zeuge, danach befragt, auf welche Weise kleine Kinder
erschossen worden seien, erwiderte: »Na, wie die Katz.« Der Richter
starrte ihn an und ersuchte nach einigen Sekunden des Schweigens um nähere
Erläuterung. In ruhigen Ton sprach der Zeuge weiter: »Na sie wurden
mit der einen Hand am Genick gepackt und mit der anderen erschossen.«
Ein abgesagter Vortrag
Die Stadt Stade will sich im Mai 2003 an den Israelischen Kulturwochen in
Niedersachsen beteiligen. Im Programm vorgesehen war auch ein Vortrag über
die ehemalige Israelitische Gartenbauschule Ahlem in Hannover. Das Gelände,
der im Juni 1942 geschlossenen Gartenbauschule, diente als Sammelstelle für
die Deportationen von Juden in die Vernichtungslager. In den Kellerräumen
der Gartenbauschule befand sich von August 1943 bis April 1945 ein
Gestapogefängnis. Der Vortrag wurde aus dem Programm der Kulturwochen
genommen, nachdem Stader Lokalpolitikern klar wurde, dass auch die
Tätigkeit von Gustav W. in Ahlem zur Sprache kommen würde.
Stadt will keinen Eklat um SS-Mann titelte die Lokalzeitung im November
2002 reißerisch den »Meinungsbeitrag« (!) einer Journalistin.
Im Meinungsbeitrag wurde der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft
AG Stade dafür verantwortlich gemacht, dass der Vortrag über die
israelitische Gartenbauschule aus dem Programm der Kulturwoche genommen wurde.
Die Journalistin berief sich auf »Insider«-Informationen, über
die Tätigkeit von Gustav W. in Ahlem gab es nur einen vagen Hinweis
im
Zeitungsartikel.
Schweigen in Stade
Die Stader Kommunalpolitiker, von denen einige sehr genaue Informationen
über den Stader Kaufmann hatten, hüllen sich in Schweigen. Das
Arrangieren des Briefes von Bundeskanzler Schröder an den
»ehrbaren« Kaufmann ist vielen peinlich. Das »Stader
Tageblatt« brachte nach dem verschleiernden Meinungsbeitrag keine weiteren
Artikel über die vielen Aspekte des Skandals. Einen Leserbrief, der
Angaben über die Tätigkeit von Gustav W. beim EK 9 enthielt,
veröffentlichte die Zeitung nicht ...da er schwere Anschuldigungen
gegen einen Stader Kaufmann enthält, die nicht nachvollziehbar sind.
Eine Veröffentlichung könnte den Tatbestand einer üblen Nachrede
enthalten, den wir presserechtlich nicht verantworten können.
Michael Quelle, Stade im
Januar 2003
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