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© VVN-BdA Stade 2003


Mit dem Artikel »Tip vom Metzger« machte DER SPIEGEL am 22. September 1997 ein offenes Geheimnis in Stade zum öffentlichen Thema: Die Ausgrenzung von Sinti und Roma in einigen Stader Gaststätten durch Pferdewurstschilder in den Fenstern.

Hintergrund: Sinti betreten kein Lokal das Pferdefleisch anbietet. Die Berichterstattung in den regionalen und überregionalen Zeitungen nach dem SPIEGEL-Artikel war eindeutig:

»Entsetzen über "Pferdewurst-Rassismus"«
HARBURGER RUNDSCHAU

»Stader Gastwirte unter Rassismus-Verdacht«
WESER-KURIER

»Schwerer Vorwurf in Stade: Rassismus mit Pferdefleisch?«
BILD

»Stimmung hinter dem Pferdekopf«
STADER TAGEBLATT

»Roßbratwurst-Reklame mit rassistischem Hintergrund?«
CELLESCHE ZEITUNG

»"Pferdewurst-Rassismus" in der Provinz«
NEUES DEUTSCHLAND

»Der Stader Streit um die Pferdewurst«
HAMBURGER ABENDBLATT

»Stade und die Pferdewurst«
HAMBURGER MORGENPOST

»Pferdewurst-Rassismus«
BLICK NACH RECHTS

Der Stader Stadtrat beschloss umgehend in seiner nächsten Sitzung: »Der Rat der Rat Stade distanziert sich mit Nachdruck von Versuchen der Stader Gastwirte, Sinti und Roma vom Besuch ihrer Gaststätten durch Pferdewurst-Werbeschilder abzuhalten. Der Rat fordert die betroffenen Gastwirte auf, diese diskriminierenden Schilder unverzüglich zu entfernen.«

Nach den Artikeln in vielen Zeitungen, öffentlichem Druck und dem Ratsbeschluß verschwanden Herbst 1997 die diskriminierenden Schilder aus einigen Gaststättenfenstern. Die Ausgrenzung von Sinti und Roma durch Pferdewurst-Schilder, egal ob im Speiseangebot der Gaststätte vorhanden oder nicht, wird von Gastwirten seit 2002 wieder vermehrt betrieben.

Bis heute hängen an vielen Stader Gaststätten Pferdewurst-Schilder, ohne dass diese Spezialität auf der Speisekarte zu finden wäre.

Wir dokumentieren einen Text aus der Pferdezeitschrift »Cavallo« aus dem Jahr 1997 und eine Reisenotiz des Kabarettisten Dietrich Kittner aus dem Jahr 1998. Den beiden Beitragen ist auch heute nichts hinzuzufügen!

Eine Zusammenstellung der Zeitungsartikel und Leserbriefe kann gegen Unkosten und Porto bei der VVN-BdA Stade, Postfach 2105, 21661 Stade angefordert werden.

Stade, 2. Dezember 2003


Dietrich Kittner

Dietrich Kittner im uz-magazin

Reisenotiz aus Stade:
Da geht man nichtsahnend in ein normales deutsches Lokal, ganz sicher, daß man drinnen bekommt was draußen angeboten wird: Pferdewurst. Und was bekommt man? Alltäglichen Rassismus!

Das Geheimnis der Pferdewurst

Notiz von der Tournee durch Deutschland: Gestern Vorstellung in Stade. Kleine feine 44.000-Einwohner-Stadt an der Niederelbe mit hübscher mittelalterlicher Altstadt und einer besonderen regionalen Spezialität: Nicht wenige Kneipen und auch gutbürgerliche Lokale haben unübersehbar eine Werbungstafel nach draußen gehängt, die »Pferdewurst, DM 3,50« anpreist; meist ist ein langmähniger Pferdekopf mehr oder weniger naiv dazugemalt.
Na, jeder Landstrich hat seine eigenen Schmakeln, sagt sich da milde lächeld der Fremde und kehrt ein - auch wenn Pferdefleisch nicht gerade zu seinen Leibgerichten zählt. Die Schilder sind in Stade schon seit 25 Jahren üblich und gehören bisher zum Lokalkolorit wie die Anpreisungen von Weißwurst in Bayern, Mozarella in Kalabrien oder Krabbenbrot auf den Nordseeinseln. Nur, anders als dort ist die in der Außenwerbung so einladend vorgezeigte Spezialität im Lokal meist nicht erhältlich - »Leider ausgegangen« -, ja häufig nicht einmal auf der Karte zu finden.
Mit der Pferdewurst-Werbung hat es nämlich eine besondere Bewandnis. Am Rande der Elbe-Stadt wohnt seit 40 Jahren in einer ihr von der Stadtverwaltung zugewiesenen Wohnsiedlung eine Minderheit von etwa 200 Sinti. Für Angehörige dieses Volkes ist das Pferd ein heiliges Tier. Die Stammesregeln verbieten ihnen, ein Lokal zu betreten, in dem Pferdefleisch angeboten wird. Das Werbeschild, das keines ist, hält sie zuverlässig draußen.
Seit letztes Jahr das streng gehütete Geheimnis aus Stade hinausgedrungen ist, tobt in der Lokalpresse der Bürger-Krieg. In Dutzenden Artikeln und Leserbriefen wird Meinung laut: vereinzelt Bestürzung und Scham über den ungenierten Rassismus deutscher Gastlichkeit - einige Wirte haben die Pferdewurst-Schilder sogar inzwischen entfernt -, meist jedoch dummdreist heuchlerische Empörung über den Versuch, den Gastronomen »in der freien Markwirtschaft das Recht auf Werbung« nach eigenem Gusto zu nehmen. Laut Zählung des »Stader Tageblatts« prangen die Defacto-Zutrittsverbotsschilder derzeit immer noch an sechs Etablissements. Ein Lokalpolitiker - selbst einem Nobellokal mit Pferdewurst geschäftlich verbunden - meint öffentlich, es müsse doch jedem selbst überlassen bleiben, wen er »in seinem Lokal sehen« wolle. Na bitte. Nur war das früher, in der guten alten Zeit, einfacher. Da genügte beispielweise ein Schild »Juden unerwünscht«, und das Lokal war »sauber«. Wollte man das ganze Land »sauber« haben, mußte allerdings schon Zyklon B eingesetzt werden.
Heute, mit inzwischen in dieser Sache geschärften Bewußtsein, sah ich auch in Hamburg das »Pferdewurst DM 3,50«-Schild an einer Kneipe.
Übrigens findet sich auf der Getränkekarte selbst mancher sonst anheimelnder Kneipen ein Kakao-Getränk mit der Bezeichnung »Lumumba«. Im Gegensatz zum bewußten Rassismus in Stade weiß wohl in den meisten Fällen der Wirt nur nicht, wer Patrice Lumumba war: der im Auftrag der CIA ermordete kongolesische Ministerpräsident, der einer Moskauer Universität den Namen gab und dem Paul Dessau sein »Requiem für Patrice Lumumba« widmete. Protest beim Wirt mit entsprechender Aufklärung kann dann schon mal einem weiteren Fall des gewöhnlichen deutschen Rassismus abhelfen.


Die Mistgabel des Monats

verliehen von der Pferdezeitschrift Cavallo an die rassistischen Gastwirte im niedersächsischen Stade

Mögen Sie gegrillte Hannoveraner-Haxen, scharf gebratene Kladruber-Koteletts oder Gedünstetes aus der Lende von Lipizzaner? Wohl kaum, denn bei Pferdefreunden geht die Liebe selten durch den Magen. Das gilt auch für Sinti. Für das ehemals fahrende Volk haben Pferde einen ähnlichen Stellenwert wie die Kühe für indische Hindus. Pferde erlaubten den Sinti Mobilität und sicherten so ihr Überleben in Zeiten der Verfolgung. Kaum ein Sinto betritt deshalb ein Lokal, das Pferdefleisch serviert. Dummdreiste Rassisten haben im niedersächsischen Stade einen perfiden Trick entdeckt, der die ungeliebten Mitbürger aus Kneipen verbannt: Sie preisen im Schaufenster frische Pferdewürste an und hoffen auf eine sintifreie Zone.
In dem 44.000-Einwohner-Städtchen zieren zahlreiche Pferdefleisch-Plakate die sauberen Fenster gutbürgerlicher Gaststätten, obwohl auch hier nur Schwein und Rind auf den Teller kommen. Im wabernden Dunstkreis ihrer Stammtische, angespornt von rabenschwarzen Vorurteilen, heckten die Stader Kneipiers die Plakat-Aktion aus. Damit wollen sie die rund 300 Sinti in Stade, die hier freilich schon seit 40 Jahren seßhaft sind, von ihren Etablissements fernhalten. Eigentlich könnten sich die Herren Gastwirte nur zuprosten, die Sinti lassen sich kaum mehr blicken. Viele Einheimische allerdings auch nicht. Denn seit das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« die rassistischen Machenschaften der Stader Gastronomie aufs Korn genommen hat, lassen sich viele Stader ihr Bier woanders schmecken, zum Beispiel beim Türken oder Italiener nebenan. Mit unserer Mistgabel möchten wir noch mehr Leute aus diesen ehrenwerten Lokalitäten treiben. Reiter kommst du nach Stade, meide die Gaststätten mit dem Pferdekopf im Schaufenster.


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