Mit dem Artikel »Tip vom Metzger« machte
DER SPIEGEL am 22. September 1997 ein offenes Geheimnis in Stade zum
öffentlichen Thema: Die Ausgrenzung von Sinti und Roma in einigen Stader
Gaststätten durch Pferdewurstschilder in den Fenstern.
Hintergrund:
Sinti betreten kein Lokal das Pferdefleisch anbietet. Die Berichterstattung
in den regionalen und überregionalen Zeitungen nach dem
SPIEGEL-Artikel war eindeutig:
»Entsetzen über
"Pferdewurst-Rassismus"«
HARBURGER RUNDSCHAU
»Stader Gastwirte unter
Rassismus-Verdacht«
WESER-KURIER
»Schwerer Vorwurf in Stade: Rassismus mit
Pferdefleisch?«
BILD
»Stimmung hinter dem
Pferdekopf«
STADER TAGEBLATT
»Roßbratwurst-Reklame mit rassistischem
Hintergrund?«
CELLESCHE ZEITUNG
»"Pferdewurst-Rassismus" in der
Provinz«
NEUES DEUTSCHLAND
»Der Stader Streit um die
Pferdewurst«
HAMBURGER ABENDBLATT
»Stade und die Pferdewurst«
HAMBURGER MORGENPOST
»Pferdewurst-Rassismus«
BLICK NACH RECHTS
Der Stader Stadtrat beschloss umgehend in seiner
nächsten Sitzung: »Der Rat der Rat Stade distanziert sich mit Nachdruck
von Versuchen der Stader Gastwirte, Sinti und Roma vom Besuch ihrer
Gaststätten durch Pferdewurst-Werbeschilder abzuhalten. Der Rat fordert
die betroffenen Gastwirte auf, diese diskriminierenden Schilder
unverzüglich zu entfernen.«
Nach den Artikeln in vielen Zeitungen,
öffentlichem Druck und dem Ratsbeschluß verschwanden Herbst 1997
die diskriminierenden Schilder aus einigen Gaststättenfenstern. Die
Ausgrenzung von Sinti und Roma durch Pferdewurst-Schilder, egal ob im
Speiseangebot der Gaststätte vorhanden oder nicht, wird von Gastwirten
seit 2002 wieder vermehrt betrieben.
Bis heute hängen an
vielen Stader Gaststätten Pferdewurst-Schilder, ohne dass diese
Spezialität auf der Speisekarte zu finden
wäre.
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Wir dokumentieren einen Text aus der Pferdezeitschrift
»Cavallo« aus dem Jahr 1997 und eine Reisenotiz des Kabarettisten
Dietrich Kittner aus dem Jahr 1998. Den beiden Beitragen ist auch heute nichts
hinzuzufügen!
Eine Zusammenstellung der Zeitungsartikel und Leserbriefe
kann gegen Unkosten und Porto bei der VVN-BdA Stade, Postfach 2105, 21661
Stade angefordert werden.
Stade, 2. Dezember 2003
Dietrich Kittner im uz-magazin
Reisenotiz aus Stade:
Da geht man nichtsahnend in ein normales deutsches Lokal, ganz sicher,
daß man drinnen bekommt was draußen angeboten wird: Pferdewurst.
Und was bekommt man? Alltäglichen Rassismus!
Das Geheimnis der Pferdewurst
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Notiz von der Tournee durch Deutschland: Gestern Vorstellung in Stade. Kleine
feine 44.000-Einwohner-Stadt an der Niederelbe mit hübscher
mittelalterlicher Altstadt und einer besonderen regionalen Spezialität:
Nicht wenige Kneipen und auch gutbürgerliche Lokale haben unübersehbar
eine Werbungstafel nach draußen gehängt, die »Pferdewurst,
DM 3,50« anpreist; meist ist ein langmähniger Pferdekopf mehr oder
weniger naiv dazugemalt.
Na, jeder Landstrich hat seine eigenen Schmakeln, sagt sich da milde
lächeld der Fremde und kehrt ein - auch wenn Pferdefleisch nicht gerade
zu seinen Leibgerichten zählt. Die Schilder sind in Stade schon seit
25 Jahren üblich und gehören bisher zum Lokalkolorit wie die
Anpreisungen von Weißwurst in Bayern, Mozarella in Kalabrien oder
Krabbenbrot auf den Nordseeinseln. Nur, anders als dort ist die in der
Außenwerbung so einladend vorgezeigte Spezialität im Lokal meist
nicht erhältlich - »Leider ausgegangen« -, ja häufig
nicht einmal auf der Karte zu finden.
Mit der Pferdewurst-Werbung hat es nämlich eine besondere Bewandnis.
Am Rande der Elbe-Stadt wohnt seit 40 Jahren in einer ihr von der Stadtverwaltung
zugewiesenen Wohnsiedlung eine Minderheit von etwa 200 Sinti. Für
Angehörige dieses Volkes ist das Pferd ein heiliges Tier. Die Stammesregeln
verbieten ihnen, ein Lokal zu betreten, in dem Pferdefleisch angeboten wird.
Das Werbeschild, das keines ist, hält sie zuverlässig draußen.
Seit letztes Jahr das streng gehütete Geheimnis aus Stade hinausgedrungen
ist, tobt in der Lokalpresse der Bürger-Krieg. In Dutzenden Artikeln
und Leserbriefen wird Meinung laut: vereinzelt Bestürzung und Scham
über den ungenierten Rassismus deutscher Gastlichkeit - einige Wirte
haben die Pferdewurst-Schilder sogar inzwischen entfernt -, meist jedoch
dummdreist heuchlerische Empörung über den Versuch, den Gastronomen
»in der freien Markwirtschaft das Recht auf Werbung« nach eigenem
Gusto zu nehmen. Laut Zählung des »Stader Tageblatts« prangen
die Defacto-Zutrittsverbotsschilder derzeit immer noch an sechs Etablissements.
Ein Lokalpolitiker - selbst einem Nobellokal mit Pferdewurst geschäftlich
verbunden - meint öffentlich, es müsse doch jedem selbst
überlassen bleiben, wen er »in seinem Lokal sehen« wolle.
Na bitte. Nur war das früher, in der guten alten Zeit, einfacher. Da
genügte beispielweise ein Schild »Juden unerwünscht«,
und das Lokal war »sauber«. Wollte man das ganze Land
»sauber« haben, mußte allerdings schon Zyklon B eingesetzt
werden.
Heute, mit inzwischen in dieser Sache geschärften Bewußtsein,
sah ich auch in Hamburg das »Pferdewurst DM 3,50«-Schild an einer
Kneipe.
Übrigens findet sich auf der Getränkekarte selbst mancher sonst
anheimelnder Kneipen ein Kakao-Getränk mit der Bezeichnung
»Lumumba«. Im Gegensatz zum bewußten Rassismus in Stade
weiß wohl in den meisten Fällen der Wirt nur nicht, wer Patrice
Lumumba war: der im Auftrag der CIA ermordete kongolesische
Ministerpräsident, der einer Moskauer Universität den Namen gab
und dem Paul Dessau sein »Requiem für Patrice Lumumba« widmete.
Protest beim Wirt mit entsprechender Aufklärung kann dann schon mal
einem weiteren Fall des gewöhnlichen deutschen Rassismus
abhelfen.
verliehen von der
Pferdezeitschrift Cavallo an die rassistischen Gastwirte im
niedersächsischen Stade
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Mögen Sie gegrillte Hannoveraner-Haxen, scharf gebratene Kladruber-Koteletts
oder Gedünstetes aus der Lende von Lipizzaner? Wohl kaum, denn bei
Pferdefreunden geht die Liebe selten durch den Magen. Das gilt auch für
Sinti. Für das ehemals fahrende Volk haben Pferde einen ähnlichen
Stellenwert wie die Kühe für indische Hindus. Pferde erlaubten
den Sinti Mobilität und sicherten so ihr Überleben in Zeiten der
Verfolgung. Kaum ein Sinto betritt deshalb ein Lokal, das Pferdefleisch serviert.
Dummdreiste Rassisten haben im niedersächsischen Stade einen perfiden
Trick entdeckt, der die ungeliebten Mitbürger aus Kneipen verbannt:
Sie preisen im Schaufenster frische Pferdewürste an und hoffen auf eine
sintifreie Zone.
In dem 44.000-Einwohner-Städtchen zieren zahlreiche Pferdefleisch-Plakate
die sauberen Fenster gutbürgerlicher Gaststätten, obwohl auch hier
nur Schwein und Rind auf den Teller kommen. Im wabernden Dunstkreis ihrer
Stammtische, angespornt von rabenschwarzen Vorurteilen, heckten die Stader
Kneipiers die Plakat-Aktion aus. Damit wollen sie die rund 300 Sinti in Stade,
die hier freilich schon seit 40 Jahren seßhaft sind, von ihren
Etablissements fernhalten. Eigentlich könnten sich die Herren Gastwirte
nur zuprosten, die Sinti lassen sich kaum mehr blicken. Viele Einheimische
allerdings auch nicht. Denn seit das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«
die rassistischen Machenschaften der Stader Gastronomie aufs Korn genommen
hat, lassen sich viele Stader ihr Bier woanders schmecken, zum Beispiel beim
Türken oder Italiener nebenan. Mit unserer Mistgabel möchten wir
noch mehr Leute aus diesen ehrenwerten Lokalitäten treiben. Reiter kommst
du nach Stade, meide die Gaststätten mit dem Pferdekopf im Schaufenster.
mehr zum Thema im
Internet
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Sinti
und Roma: Bis heute Anfeindungen ausgesetzt
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