Ein Dorf schließt die Augen

Die ermordeten Kinder von Fredenbeck


Diese Dokumentation wurde im November 2003 Rahmen des Politik- und Deutschunterrichts der Klasse FOS 12 an der staatlich anerkannten Fachoberschule Wirtschaft der Stader Privatschule in Stade erstellt und im Februar 2004 von der Bundeszentrale für politische Bildung mit einem Preis ausgezeichnet.

Autoren: Jennifer Born, Jakob Daenecke, Matthias Dede, Marcin Dressler, Anne Engelmann, Christian Fürst, Anisa Habibzada, Kristin Herfurth, Sebastian Hofer, Marcel Hopp, Patrick Hopp, Torben Jahn, Melanie Klemp, Michaela Klintworth, Christopher Klose, Andreas Kostian, Michael Kurth, Martina Lancker, Emilia Lanz, Marco Leyrer, Dennis Müller, Holger Müller, Rike Peters, Stephanie Rathjen, Simon Rehder, Nils Schmidtmeyer, Jens Somfleth, Diana Wendland; Lehrkraft: Ingetraud Lünser; Fotos: Jennifer Born, Andreas Kostian, Ingetraud Lünser; Gestaltung: Christian Fürst.


1. Projektbericht

Erst Anfang Oktober wurden wir auf die »ProjektWerkstatt2003« aufmerksam. Wir entschlossen uns, an dem Wettbewerb teilzunehmen, obwohl die Zeit bis zum 1. Dezember nur noch kurz war.

Wir entschieden uns für das Thema »Spuren des Nationalsozialismus« und hatten ab November sechs Unterrichtsstunden (Deutsch und Politik) zur Verfügung. Alles andere und vor allem die Vorarbeiten machten wir in der Freizeit.

In den Herbstferien sammelten wir erste Informationen. Dabei fiel uns besonders das »fremdvölkische Kinderheim« in Fredenbeck auf, in dem viele Neugeborene von Zwangsarbeiterinnen gestorben waren. Im Gemeinderat gab es einen heftigen Streit über die Frage nach einer Gedenktafel. Wir luden den Stader Stadtarchivar Dr. Jürgen Bohmbach in den Unterricht ein. Er berichtete uns über die NS-Zeit im Kreis Stade und beantwortete unsere Fragen zum »Kinderheim«.

In Gruppen arbeiteten wir dann mit unterschiedlichen Informationsquellen: Einige suchten in Büchern, Zeitungen und im Internet, einige führten Interviews, eine Gruppe informierte sich vor Ort und eine andere machte Vorschläge für eine würdige Gestaltung eines Gedenksteins. Alle Gruppen berichteten der Klasse von ihren Ergebnissen und Erlebnissen. Gemeinsam legten wir eine Gliederung für unsere Dokumentation fest und bildeten dann Redaktionsgruppen, um die Einzelergebnisse zusammenzufassen.

Am Donnerstag, 13.11.2003, platzte ein Tiefschlag mitten in unsere Arbeit: Die Tageszeitung kündigte für den Volkstrauertag die Enthüllung eines Mahnmals in Fredenbeck an. Der Gemeinderat hatte in nicht öffentlicher Sitzung eine schnelle Entscheidung getroffen, um das Thema endlich vom Tisch zu haben. Genau deshalb haben wir unsere Dokumentation trotzdem abgeschlossen. In Fredenbeck steht zwar jetzt ein Gedenkstein, aber er ist unbefriedigend und es will sich immer noch keiner erinnern.



2. Der Erlass

Nach einem Erlass des Generalbevollmächtigten für Arbeitseinsatz vom 15.12.1942 wurden ab Anfang 1943 im Deutschen Reich »Entbindungsstätten einfachster Art« für Zwangsarbeiterinnen und »Betreuungsstätten« für Kinder eingerichtet. Ergänzt wurde diese Bestimmung durch einen SS-Erlass vom 27. Juli 1943 über »die Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen und der im Reich von ausländischen Arbeiterinnen geborenen Kinder«. Der Erlass galt ausdrücklich auch für die in der Landwirtschaft eingesetzten Frauen aus Polen und der Sowjetunion. Ziel war es, die Arbeitskraft der Frauen trotz Schwangerschaft und Entbindung voll auszunutzen. Auf das Leben von Mutter und Kind sollte keine Rücksicht genommen werden, da sie als rassisch minderwertig galten.

Schon die Entbindungen fanden meistens unter schlechtesten Bedingungen statt, entweder in speziellen »Ausländerbaracken« der Krankenhäuser oder direkt in den erbärmlichen »Kinderheimen«. Die Mütter mussten nach kurzer Zeit ihren Arbeitsdienst wieder aufnehmen, manchmal auch schon einen Tag nach der Geburt. Ihre Kinder blieben im »Heim« oder wurden dort eingeliefert. Auch Säuglinge oder Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen, die verhaftet wurden und in ein Konzentrationslager kamen, brauchte man in diese »Heime«. Die Versorgung der Kinder war nicht einheitlich geregelt, meistens jedoch so katastrophal, dass die Sterblichkeitsrate bei fast 55% lag.

Im Reichsgebiet sind 21 Einrichtungen dieser Art dokumentiert, 157 belegt und weitere 123 vermutet. Die Vereinigung für die Verfolgten des Naziregimes (vvn-bda) berichtet von 58 »Heimen« allein in Niedersachsen. Dort starben mindestens 2000 bis 3000 Kinder durch bewusste Vernachlässigung.



3. »Fremdvölkische Kinderheime« im Landkreis Stade

Im Landkreis Stade waren im Sommer 1940 etwa 2000 bis 3000 Kriegsgefangene und 1500 polnische Zivilarbeiter vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt, gegen Kriegsende waren es rund 7000 Zivilarbeiter und etwa 1000 Kriegsgefangene.

»Betreuungseinrichtungen« für Kinder von Zwangsarbeiterinnen wurden ab dem Jahr 1943 eingerichtet. Die Errichtung und Verwaltung der auch »Entbindungsstätten« genannten Heime lag beim damaligen Landrat in der Abteilung »Pflegestätten für fremdvölkische Kinder«.

Am 7. September 1943 schrieb der Landrat die Bürgermeister an, geeignete Räume zur Verfügung zu stellen. Es ist jedoch kein Fall bekannt, dass ein Bürgermeister Probleme bekam, wenn er dieser Aufforderung nicht nachkommen wollte oder konnte.

1943 wurde das erste Heim in Balje-Hörne in Betrieb genommen. 1944 folgten dann Heime in Jork-Borstel, Drochtersen-Nindorf und Klein Fredenbeck. Insgesamt waren die »Ausländer-Pflegestätten« auf etwa 100 »Pflegeplätze« ausgerichtet. Die Zustände waren katastrophal. Die Heime wurden ungenügend geheizt, es gab kein ausreichendes Bettzeug, die Säuglinge wurden nicht gewickelt und ärztlich nicht versorgt.

Außerdem gab es nicht genug Nahrung, vor allem keine Säuglingsnahrung, und es gibt Hinweise, dass die Milch manchmal sogar vergiftet oder zumindest verdorben war. Die Kinder mussten deshalb meist qualvoll sterben.



4. Das »Kinder- und Entbindungsheim für Ausländer« in Klein Fredenbeck

4.1  1944 - 1945: Babys müssen sterben

Am Rande von Klein Fredenbeck, ganz in der Nähe der Geestlandhalle, befinden sich Reste eines Gebäudes, dessen grausame Vergangenheit den Dorfbewohnern immer noch zu schaffen macht, obwohl oder gerade weil niemand etwas davon mitgekriegt haben möchte.

Entstehung und Umsetzung

Ein Nebengebäude der Ziegelei wurde im August 1944 als »Kinderheim« eingerichtet. Am 18.08.1944 wurde die erste Pflegerin mit ihrer Tochter dort untergebracht. Um die Babys mussten sich junge Zwangsarbeiterinnen kümmern, die zum Teil selber gerade zum ersten Mal entbunden und auch noch keine Erfahrung mit Neugeborenen hatten. Die häufigste Todesursache war die Ernährungsstörung, die darauf zurückzuführen ist, dass die Zwangsarbeiterinnen nur Kuhmilch zur Verfügung hatten, die durch den hohen Fettanteil nach wenigen Tagen zum Tod vieler Kinder führte.

Schlechte Versorgung und äußere Umstände, wie mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Versorgung, führten ebenfalls zum schnellen Tod. Die durchschnittliche Überlebenszeit der Kinder war im Fredenbecker »Heim« am geringsten. Alle Kinder, die älter als acht Wochen wurden, sind erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeliefert worden. Die toten Kinder wurden in Schachteln gelegt und nach Aussagen von Zeitzeugen in einer Ecke des Kommunalfriedhofs verscharrt, über die heute wahrscheinlich ein Gehweg verläuft. Die genaue Lage der Gräber lässt sich wohl nicht mehr bestimmen, weil die Unterlagen aus dieser Zeit im Fredenbecker Rathaus nicht mehr vorhanden sind. Aber eine Zeitzeugin sagte: »Ich habe die kleinen Gräber auf dem Friedhof gesehen. Kleine Erdhügel, ohne weitere Kennzeichnungen... Auf der einen Seite die Grabstätten der Fredenbecker, auf der anderen Seite diese kleinen Hügel. Ich hatte immer Angst, daran vorbei zu gehen.« (Zitiert aus: Tatjane Behrens, »Ich habe die kleinen Gräber gesehen«). Überreste, die den gewaltsamen Tod der Kinder beweisen könnten, gibt es nicht mehr.

Die Zwangsarbeiterinnen wurden von den Landwirten zum Gebären in das »Heim« geschickt und oft mit ihrem eigenen Pferd und Wagen hingebracht. Auch hier mussten sie möglichst schon einen Tag nach der Geburt ihres Kindes ihre Arbeit auf den Höfen wieder aufnehmen. In wenigen Fällen haben die Bauern ihnen die Möglichkeit gegeben, auf dem Hof zu gebären und ihre Kinder dort neben der harten Arbeit aufzuziehen. Aber die meisten Bauern lehnten die Erziehung auf ihren Höfen ab.

Auch heutzutage gibt es noch den Vorwurf, die im Kinderheim entbindenden Frauen seien Huren gewesen. Der Gastwirt an der Zufahrt zum Heim berichtet, die Frauen hätten ihre Kinder selbst in den Teichen (ehemalige Tonkuhlen) ertränkt und dort sei immer »Verkehr« gewesen. Er hat sich auf unsere Fragen richtig aufgeregt. Doch bei den »regelmäßigen Heimbesuchern« handelte es sich lediglich um die Väter der Kinder, die manchmal heimlich zu ihren Frauen und Kindern schlichen. Zwangsarbeiter hatten gar nicht die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Der Grund für diesen Vorwurf ist schlicht der »Tatbestand« der Schwangerschaft der oft unverheirateten Frauen.

Die für das »Entbindungsheim« zuständige Hebamme Henny K. ließ sich von Polizeibeamten begleiten, wenn sie zu einer Entbindung nach Fredenbeck gerufen wurde. Sie hatte Angst vor den Vätern, aber auch Angst vor den Dorfbewohnern, die es hassten, wenn Zwangsarbeiterinnen Kinder zur Welt brachten. Manchmal waren die Väter aber wohl auch die Dorfbewohner. Nach der Enthüllung des Mahnmals mit den Vornamen der toten Kinder von Fredenbeck rief jemand anonym bei der SPD-Fraktion des Gemeinderats an und sagte, er könne wenigstens in einem Fall dem Vornamen des Kindes den dazugehörigen Nachnamen eines deutschen Vaters hinzufügen.

Nachweislich sind 17 von 22 Säuglingen im Fredenbecker »Heim« verstorben und zwei weitere starben kurze Zeit später an den Folgen. Bestimmt gibt es noch eine Dunkelziffer. Ab April 1945 wurde die alte Ziegelei nicht mehr als Kinderheim genutzt.

4.2  1999 - 2003: Der Gemeinderat streitet um ein Gedenken

Bereits im Februar 1999 schlug Herr Weh, ein engagierter Einwohner Fredenbecks und einziger Vertreter der Grünen im Gemeinderat, dem Gemeinderat der Gemeinde Fredenbeck vor, der verstorbenen Kinder in angemessener Form zu gedenken.

Überraschend war die heftige Reaktion der Ratsmitglieder: SPD und CDU stimmten anfangs geschlossen gegen ein solches Vorhaben. Nach weiteren Diskussionen war die SPD nicht mehr grundsätzlich dagegen, schlug aber vor, einen Gedenkstein im Jahr 2006, dem 750. Geburtstag von Fredenbeck, aufzustellen. Von Seiten der CDU hörte man allerdings sehr ausfallende Äußerungen, wie zum Beispiel: Man wisse ja, was das für Frauen gewesen seien; die sind doch froh gewesen, ihre Kinder loszuwerden; die hätten sich doch mit Absicht schwängern lassen, damit man sie zurück nach Polen schickt oder wo sie hergekommen seien; was solle das überhaupt, heute Geld für tote Kinder auszugeben, dann solle man lieber für einen guten Zweck spenden...

Es scheint, als habe Herr Weh ein für einige Einwohner Fredenbecks sehr unangenehmes Thema auf den Tisch gebracht. Von derartigen Äußerungen nicht weiter eingeschüchtert, versuchte der Politiker der Grünen eine zufriedenstellende Lösung für ein angemessenes Gedenken an die toten Kinder zu erreichen.

Die Auseinandersetzung mit der CDU dauerte an, auch für den Haushalt 2003 wurde der Antrag für einen Gedenkstein in Verbindung mit einem steinernen Totenbuch, welches die vollständigen Namen der Opfer beinhalten sollte, vom Gemeinderat Fredenbeck abgelehnt.

Da im Gemeinderat keine Einigung mehr möglich war und die CDU-Fraktion die Mehrheit bildete, sah Herr Weh keine andere Möglichkeit mehr und wandte sich an die Presse. Eine Journalistin nahm Kontakt zum Gemeindebürgermeister auf. Doch dieser berief sich auf die vereinbarte Vertraulichkeit und gab keine Auskunft. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Vater des heutigen Bürgermeisters damals »Dorfschulze« war und die alte Ziegelei für ein »Kinderheim« zur Verfügung gestellt hatte. Nach der Veröffentlichung eines entsprechend kritischen Zeitungsartikels spitzte sich die Situation so weit zu, dass eines nachmittags bei Herrn Weh eine Morddrohung per Telefon einging: Wenn dieser Stein aufgestellt würde, könne er seinen eigenen gleich daneben stellen.

Erst unter dem zunehmenden öffentlichen Druck sah sich der ablehnende Teil des Gemeinderates dazu gezwungen, eine Lösung für das Gedenken an die Kinder zu finden. Trotzdem pendelte die Diskussion noch im Oktober zwischen »kein Stein«, »nur ein anonymes Mahnmal« und zwei Steinen, je einen nach den Vorstellungen der CDU und einen nach den Vorstellungen von SPD und Grünen. Man einigte sich dann relativ kurzfristig auf kleinstem Nenner: Es sollte ein Gedenkstein auf dem kommunalen Friedhof aufgestellt werden. Für die Nennung der Namen der Opfer war man allerdings wieder nur zu einem Kompromiss bereit. Wer heute den Stein auf dem Friedhof in Fredenbeck besucht, erfährt nur die Vornamen der Kinder. Es gibt keine Information über ihre Geburts- und Sterbedaten, nichts, was auf die Abstammung der Opfer hinweisen könnte.

4.3  16. November 2003: Ein Mahnmal wird enthüllt

Am 16. November diesen Jahres, Volkstrauertag, wird nach dem Gottesdienst und den Kranzniederlegungen an den Ehrenmalen der gefallenen deutschen Soldaten ein Denkmal auf dem Fredenbecker Friedhof enthüllt.

Aufgrund verspäteter und ungenügender Informationen über Zeit und Ort der Enthüllung finden sich nur etwa 25 Gedenkende ein, Bürgermeister, Pastor, Vertreter des Schützenvereins und die Presse einbezogen. Die Terminpläne der Gemeinde und der Kirche enthielten nur »Lotto und Umbüdeln« beziehungsweise die Gottesdienstzeiten. Einen Aushang am Rathaus gab es nicht und die von uns angerufene Gemeindemitarbeiterin musste sich erst »schlau machen« und zurückrufen.

Sofort nach seiner Ankunft entfernte der Bürgermeister die Abdeckung des Denkmals. Zu erwarten wäre eine kleine Rede über die vergangenen Geschehnisse gewesen, stattdessen hält nur der Pastor eine Andacht. Auch dieser geht in seiner Ansprache nicht darauf ein, was damals genau in diesem Kinderheim geschehen ist.

Als Unwissender hätte man eher an Opfer von Bombenangriffen gedacht. Dies gilt auch für den Text der Gedenktafel: »Zur Erinnerung der Frauen und Kinder, die in Fredenbeck Opfer der NS-Zeit wurden«. Nach dem Gebet und einer Schweigeminute löst sich das Zusammentreffen schnell auf. Nur Kritiker des Gesamtablaufs bleiben noch.

Ein SPD-Ratsmitglied erzählt, dass die CDU-Fraktion im Fredenbecker Rat jede weitere Information auf dem Gedenkstein strikt abgelehnt habe; Nachname, Geburts- und Sterbetag der Opfer und der Zeitraum der Verbrechen sind nicht aufgeführt. Selbst einer symbolischen Abbildung von Mutter- und Kindeshand wurde nicht zugestimmt. Lediglich die Vornamen der 17 Opfer werden genannt.

In einem Telefonat mit dem Pastor stellt sich im Nachhinein heraus, dass er vom Gemeindebürgermeister gebeten wurde die Andacht zu halten, da er eine neutrale Person sei. Der Streit des Rates sollte nicht bei der Enthüllungs-Zeremonie fortgeführt werden. Es war eine Ansprache gewünscht, die niemandem schadet.

4.4  Interview mit dem Bürgermeister von Fredenbeck, Herrn Helmut Burfeindt

Wir führten das Interview nach der Enthüllung des Gedenksteins am 20. November 2003. Leider war Herr Burfeindt nur zu einem Telefonat bereit. Wir konnten aus dem Gespräch mit ihm auch keine sachliche Information beziehen. Er war zwar freundlich, jedoch sehr abwehrend und beantwortete keine unserer Fragen konkret.

Zu dem Streit im Gemeinderat äußerte er sich negativ über seine politischen Kollegen. Er teilte uns mit, dass diese »Sache« von »klugen Leuten« öffentlich gemacht wurde, obwohl es sich um eine nicht öffentliche Sitzung gehandelt habe und Vertraulichkeit vereinbart worden sei.

Er sagte, dass er sich sehr bemüht habe Zeugen zu finden, die Näheres über das Kinderheim berichten könnten, konnte aber keine ausfindig machen. Die Menschen, die dies erlebt hätten, seien alle älter und wollten nichts mehr davon wissen.

Auf die Frage, ob der Gedenkstein eine optimale Lösung sei, antwortete er, dass er ganz anderer Meinung sei und es sich um einen Kompromiss für alle Beteiligten handele. Da die Todesdaten der Kinder nicht bekannt seien, habe man sie auch nicht auf dem Stein erfassen können. (Dies ist nachweislich falsch.)

Wie wir schon gesagt haben, sind viele Bürger in Fredenbeck überzeugt, dass es kein Kinderheim gab, sondern dass es ein Bordell war. Zu dieser Frage wollte der Bürgermeister sich nicht äußern, er sei zu der Zeit erst neun Jahre alt gewesen und wüsste nichts. Er kritisierte das von Frau Dr. Schlichting geschriebene Buch »Alltag und Verfolgung. Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus« und teilte uns mit, dass es viele Lügen beinhalte.

Die Bürgerbeteiligung bei der Enthüllung des Mahnmals hielt er für ausreichend, während er den geringen Gottesdienstbesuch am Morgen beklagte.

Auf die Frage nach seinem Standpunkt wich er uns aus. Er habe sich aus dieser Sache raus gehalten, da er überzeugt sei, dass die Politik damit nichts zu tun habe. Er wollte uns lieber von einem vorbildlichen Beispiel erzählen, welches angeblich stattgefunden hat. Eine Zwangsarbeiterin soll in dem Heim ein Kind zur Welt gebracht haben, welches anschließend getauft wurde und den Namen des Landwirtes S. annahm. Er wusste sehr viel darüber, dafür dass er zu dieser Zeit erst neun Jahre alt war, zum Beispiel, dass die Frau sich nie beklagt habe und anschließend nach Kanada gegangen sei.

Man merkt, dass die Fredenbecker bei solchen Beispielen gerne zuhören, ansonsten die Augen aber leider verschlossen bleiben.

4.5  Gegen das Vergessen

Wir sind der Meinung, dass der Gedenkstein nur aufgestellt wurde, damit das Thema endlich vom Tisch ist und wieder vergessen werden kann. Es soll wieder Ruhe in den Ort und im Gemeinderat einkehren, der endlich die neue Sporthalle verabschieden will. Das ist uns nicht genug. In Fredenbeck hat man sich nicht dazu bekannt, dass man unschuldige Säuglinge und Kleinkinder als »unwertes Leben« absichtlich sterben ließ, obwohl nie jemand versucht hat, jemandem persönlich die Schuld daran zu geben. Auch nach so vielen Jahren ist niemand bereit, einfach zu sagen »Ja, das war schlimm!«.

In den Köpfen hat sich nichts verändert. Wir finden das aber wichtig, weil nur so verhindert werden kann, dass so etwas nie wieder passiert. Außerdem ist es wichtig, »den verstorbenen Kindern ihre Identität zurückzugeben«, wie es die SPD-Ratsfrau gefordert hat, damit sie als vollwertige Menschen gelten und nicht als »unwertes Leben«. Deshalb haben wir einen eigenen Vorschlag für einen Gedenkstein und eine Informationstafel ausgearbeitet.

Entwurf eines Gedenksteins

Entwurf für einen Gedenkstein

Text für die Informationstafel

Zum Andenken an die Kinder, die in der Zeit von August 1944 bis April 1945 unter menschlich unwürdigen Bedingungen ums Leben kamen. Im Jahre 1943 wurde im Deutschen Reich eine Verordnung für die Errichtung von fremdvölkischen Kinderheimen erlassen. In diese Kinderheime wurden die Neugeborenen der Zwangsarbeiterinnen aufgenommen und teilweise wurden sie dort auf die Welt gebracht. Sie selbst wurden von ihren Kindern getrennt und zurück ins Arbeitslager gebracht. Auch hier in Fredenbeck wurde ein Kinderheim eingerichtet. Die dort untergebrachten Neugeborenen kamen größtenteils durch bewusste Vernachlässigung und medizinische Unterversorgung ums Leben. Insgesamt sind 17 der 22 eingelieferten Kinder an diesen Folgen gestorben. Sie wurden damals achtlos in einer Ecke dieses Friedhofs verscharrt.



5. Quellenangaben

1. Literatur
Hartmut Lohmann, »Hier war doch alles nicht so schlimm«. Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. vom Landkreis Stade, Stade 1991
Selma Meerbaum-Eisinger, Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund, hrsg. von Jürgen Serke, Hamburg 1980
Heike Schlichting/Jürgen Bohmbach, Alltag und Verfolgung. Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. von der Stadt und dem Landkreis Stade, Stade 2003

2. Zeitungsberichte
- Tatjana Behrens, »Ich habe die kleinen Gräber gesehen«, in: Stader Wochenblatt, 22.01.2003
- Tatjana Behrens, Jetzt wird sogar mit Mord gedroht, in: Stader Wochenblatt, 20.09.2003
- Tatjana Behrens, »Schicksal wird nicht vergessen«, in: Geest-Rundschau, 19.11.2003
- Susanne Helfferich, Fredenbeck: CDU will doch kein Mahnmal, in: Stader Tageblatt, 25.03.2003
- Susanne Helfferich, Chaos hoch 3: Zwei Mahnmale und keine Sporthalle, Stader Tageblatt, 17.09.2003
- In Gedenken an die Kinder, (ief), in: Stader Tageblatt, 17.11.2003
- Frank Keil, Lücken in der Erinnerung, Frankfurter Rundschau, 20.11.2003
- Mahnmal wird enthüllt, (st), Stader Tageblatt, 13.11.2003
- Uwe Ruprecht, Das fast vergessene Verbrechen, in: Hamburger Abendblatt/Harburger Rundschau, 26.01.1999
- Uwe Ruprecht, Unsägliche Ignoranz, in: blick nach rechts, 20. Jahrgang Nr. 21, 16.10.2003
- Dr. Heike Schlichting, Wo Neugeborene starben, in: Stader Tageblatt, 09.10.2003
- Karsten Wisser, Dorf streitet um ein Mahnmal, Hamburger Abendblatt/Harburger Rundschau, 17.09.2003

3. Interviewpartner
Dr. Jürgen Bohmbach, Leiter des Stadtarchivs Stade
Dr. Heike Schlichting, Historikerin, Stade
Michael Quelle, VVN-BdA, Stade
Johann Burfeindt (CDU), Bürgermeister der Gemeinde Fredenbeck
Wolfgang Weh (Die Grünen), Ratsmitglied der Gemeinde Fredenbeck
Dr. Michael Blömer, Pastor der Martin Luther Kirche Fredenbeck


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