VVN-BdA Stade

Gedenkstein für ermordete Zwangsarbeiterkinder in Fredenbeck enthüllt

ZeitungFrankfurter Rundschau 20. November 2003

Kurz vor Ende seines wohlorganisierten Gottesdienstes verhaspelt sich der Pastor dann doch. Die Predigt hat er schon gehalten, nach der Gott eines Tages sehr wohl über Gut und Böse entscheiden und über alle entsprechend richten werde; er hat vor- und mitgesungen und sich immer wieder mit erhobenen Armen an seine Gemeinde gewandt. Und nun kommt er ins Stocken, verschluckt sich, verspricht sich, als er die Worte »fremdvölkisches Kinderheim« aussprechen will. An dieses soll im Anschluss mit der Einweihung eines Mahnmals auf dem Friedhof erinnert werden. Der Pastor kennt den Konflikt um das Mahnmal. Er hat auf Wunsch eines Beteiligten vermittelt.

Denn es hat in der nahe der norddeutschen Kreisstadt Stade gelegenen Gemeinde Fredenbeck heftige Auseinandersetzungen darum gegeben, ob und wie man der Kinder hierher verschleppter Zwangsarbeiterinnen gedenken soll, die zum Ende der NS-Zeit in Fredenbeck ums Leben gekommen und zum Teil auf dem Friedhof hastig verscharrt worden waren. Erst in letzter Minute haben sich die Gemeinderatsmitglieder auf einen Kompromiss geeinigt. Ein Mahnmal wird an 17 Kinder erinnern, die am Rande Fredenbecks in dem so genannten Entbindungsheim für Zwangsarbeiterinnen geboren wurden, dort untergebracht waren und alsbald gestorben sind.

Auf dem Findling steht jetzt eine Inschrift, die an die Frauen und Kinder erinnern soll. Ein Hinweis auf das »Heim« findet sich nicht, es folgen allein die Vornamen der Kinder. So ist nicht erkennbar, auf welche Weise und warum diese Kinder ums Leben kamen. Auch ist nicht ablesbar, dass keines der Kinder älter als zwei Monate wurde, dass die Zwillinge Christina und Maria Mrosowska gleich am Tag ihrer Geburt starben, und dass Stanislaw Solitawa am 25. April 1945 im Alter von zwei Wochen sein Leben lassen musste, als schon britische Truppen von Bremen her nahten.

Nach außen gibt sich Fredenbeck gerne als weltoffene, aufstrebende und moderne Gemeinde, die bundesweit bekannt ist wegen ihrer Handballmannschaft, die zeitweise den Sprung in die Erste Liga schaffte, aktuell auf Grund ihrer schwankenden Leistungen jedoch Anlass zur Sorge gibt. 4300 Einwohner zählt man, Tendenz steigend. Der Ort ist schuldenfrei, wie auch die gleichnamige Samtgemeinde. Regiert wird Fredenbeck von der CDU, mit allerdings nur einer Stimme Mehrheit. Da heißt es, die Reihen geschlossen zu halten. Was bis zuletzt gelungen ist.

Alles begann, als im Februar 1999 Wolfgang Weh, derzeit der einzige Vertreter der Grünen im Gemeinderat, vorschlug, der Kinder zu gedenken. Es gab heftige Reaktionen: Stimmten anfangs SPD und CDU geschlossen gegen ein solches Vorhaben, erklärte bald die SPD, nicht grundsätzlich gegen einen Gedenkakt zu sein, nur nicht jetzt, sondern erst im Jahr 2006, wenn Fredenbeck 750 Jahre alt wird. Von Seiten der CDU soll es zu verbalen Ausfällen gekommen sein, wie nach und nach aus den nicht öffentlichen Gemeinderatssitzungen durchsickerte: Man wisse ja, was das für Frauen gewesen seien; die seien doch froh gewesen, ihre Kinder loszuwerden; die hätten sich doch mit Absicht schwängern lassen, damit man sie zurück nach Polen schickt oder wo sie hergekommen seien; was solle das überhaupt, heute Geld für tote Kinder auszugeben.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen ging es darum, zwei Gedenksteine aufzustellen: den der CDU, auf dem ganz allgemein Kindern gedacht werden sollte, und jener von Wolfgang Weh, dem sich mittlerweile die SPD angeschlossen hatte, in Form eines steinernen Buches, mit allen verfügbaren Angaben zum kurzen Leben der Fredenbecker Zwangsarbeiterkinder, für den man sogleich Spenden sammelte. Doch wie hätte das ausgesehen: Zwei Steine in einer Gemeinde? Wo hätte man den zweiten Stein überhaupt aufgestellt? Wie hätte man von nun an im Gemeinderat zusammenarbeiten sollen, wo doch gerade geklärt werden muss, wie und wo die neue Turnhalle hingebaut werden soll und welche Wirtschaftswege es auszubauen gilt?

Über die Gründe des Streits ist selbstverständlich vor Ort spekuliert worden. Fest steht: Der Vater des jetzigen CDU-Rathauschefs war, als das »Heim« errichtet wurde, Gemeindeschulze und hatte damit eine einem Bürgermeister vergleichbare Position inne. Wenn auch niemand behauptet, dass dieser an der Errichtung des »Heimes« persönlich beteiligt gewesen sei, bleibt es zugleich schwer vorstellbar, dass er so gar nichts von dem, was sich in den Räumen einer alten, abgeschiedenen Ziegelei ereignet haben muss, gewusst haben soll.

Keinesfalls ist die Gemeinde damals gezwungen gewesen, ein solches »Heim« einzurichten. In einem für eine NS-Behörde vergleichsweise moderaten Ton fragte der zuständige Landrat 1943 nach, ob in Fredenbeck geeignete Räumlichkeiten, etwa in Form einer stillgelegten Ziegelei, zu finden seien, und bat um Prüfung. Es lässt sich nicht mehr feststellen, wie engagiert auf das Schreiben geantwortet wurde. Sicher ist nur, dass von August 1944 an ein »fremdvölkisches Kinderheim« bestand, den Kindern jede Pflege vorenthalten wurde, sie so systematisch vernachlässigt wurden und damit als Todesursache Lebensschwäche genannt werden konnte. Dies alles hätte auf dem Gedenkstein stehen können.

Schließlich wurde dem von der Kirche angebotenen Kompromiss zähneknirschend zugestimmt. Unnachgiebig gab sich die Ratsmehrheit bis zuletzt, wie die örtliche SPD-Vorsitzende erfahren musste: Sie wollte wenigstens die Zahlen 1944-45 auf dem Stein stehen haben, Platz wäre gewesen. Oder zwei eingravierte stilisierte Hände, die einer Mutter und die eines Kindes, damit aus der vagen Andeutung, dass Frauen und Kindern gedacht werden soll, genauere Schlüsse gezogen werden können. Auch bei der Frage der Nennung der Nachnamen, die ebenso wie Geburts- und Sterbedaten amtlich bekannt sind und deren Erwähnung den Kindern ihren Status als Staatsbürger ihres jeweiligen Landes hätte geben können, gab es keine Einigkeit.

Wie brisant das Thema ist, zeigte ein Telefonat, das unlängst bei der SPD einging: Ein anonymer Anrufer teilte mit, er könne in wenigstens einem Fall den Namen des dazugehörigen deutschen Vaters hinzufügen.

Die Hoffnung ruht so in Fredenbeck auf der jüngeren Generation und ihrem Bewusstsein für die Geschichte, heißt es am Tag der Einweihung des Mahnmals immer wieder. Gleich neben dem Friedhof liegt die Geestlandschule, hier unterrichtet der Grünen-Politiker Weh. Und auch der Pastor hat versprochen, dass er mit den Konfirmanden regelmäßig an dem Stein vorbeischauen und erläuternde Worte finden wird.

Aus dem nahen Stade ist eine Lehrerin mit einigen Schülern gekommen. Im Unterricht behandeln sie gerade den Nationalsozialismus und wollen dies mit der Betrachtung der Regionalgeschichte verknüpfen. Erst neulich haben sie sich dort umgeschaut, wo einst das »fremdvölkische Heim« stand. Ganz am Rande Fredenbecks, wo der Ort langsam ausläuft und die Straße auf ihrem Weg durch die Weltmark nur noch notdürftig asphaltiert ist, rechts des ehemaligen Ziegelteiches, an dem heute Angler sitzen und von dem einige vermuten und andere vielleicht auch wissen, dass man hier einige der gestorbenen Kinder versenkt hat. Ganz freundlich hätten sie im benachbarten Gasthof gefragt, ob jemand etwas über die Zeit wüsste, und wären äußerst unfreundlich abgewiesen, nahezu beschimpft worden. Die Schüler haben es mit Fassung getragen. So lernen sie ja auch etwas von dieser Welt.

Frank Keil


ZeitungNeues Deutschland 20. November 2003

Einmal war Fredenbeck Schauplatz eines Kulturkampfes. Ein Fräulein Lehrerin hatte anno 1973 die Schallplatte »Warum ist die Banane krumm?« als Unterrichtsmittel eingesetzt. »Kinder, macht die Lichter aus, / Mutter zieht sich nackend aus, / Vater zieht den Dicken raus, / fertig ist der kleine Klaus« wurde da gereimt - eine »Porno-Platte«, urteilte die Lokalpresse. Eltern empörten sich und hielten ihre Sprösslinge zwei Tage vom Unterricht fern; gegen Fräulein Lehrerin wurde wegen »Unzucht mit Abhängigen« ermittelt; sogar das Parlament in Hannover befasste sich mit der Angelegenheit; eine Diskussionsveranstaltung am Tatort wurde zum bundesweiten Medien-Ereignis. Fredenbeck wurde synonym für die Engstirnigkeit der Provinz.

Seither hat die 12.500-Einwohner-Gemeinde im nördlichen Niedersachsen vor allem durch sein Handball-Team von sich reden gemacht, das allerdings auch nicht mehr in der ersten Liga spielt. An der Borniertheit hält man eisern fest. Fünf Jahre lang schon verschließt Fredenbeck hartnäckig die Augen vor dem dunkelsten Kapitel der Dorfgeschichte.

Über 7000 Arbeitssklaven aus Russland, der Ukraine, Lettland und vor allem aus Polen wurden während des »Dritten Reichs« in die Region deportiert. Allen deutschen Vorstellungen von Moral und Ordnung zum Trotz kam es zu Intimitäten, auch zwischen Zwangsarbeiterinnen und Deutschen, ganz zu schweigen von Vergewaltigungen. Schwangere Zwangsarbeiterinnen wurden anfangs in ihre Heimat zurück geschickt. Schließlich aber wollte man sich ihre Arbeitskraft nicht mehr entgehen lassen und richtete 1943 in aufgelassenen Ziegeleien vier so genannte »Ausländerkinder-Pflegestätten« ein, die für die Unterbringung von 100 Säuglingen und Kleinkindern ausgelegt waren. Wenigstens 68 unerwünschte Kinder wurden in ihnen durch »bewusste Vernachlässigung« oder Gift umgebracht. Über 150, wahrscheinlich 250 dieser Tötungsstätten gab es in ganz Deutschland.

»Und dann nahm ich den Karton, in dem die Kinder lagen. Die Deutschen hatten sie sterben lassen. Ich brachte sie zu euch auf den Friedhof und sprach ein stilles: Mit Gott.« Eine ehemalige Zwangsarbeiterin erinnert sich. Die heute über 80-jährige Polin musste in der Tötungsstätte in Jork-Borstel Dienst tun und die Leichen »entsorgen«. Ein Stein mit den Namen von 12 Kindern, die zwischen Juli 1944 und Januar 1945 starben, wurde im März 2002 auf dem Friedhof eingeweiht. Wieder gut machen lasse sich nichts, sagte der Landrat aus diesem Anlass, aber sich ihrer zu erinnern, sei »das mindeste Menschenrecht«, auf das die Opfer einen Anspruch hätten.

Bereits 1994 in Balje-Hörne und 1997 in Drochtersen-Nindorf wurden auf Initiative der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten VVN-BdA Mahnmale errichtet. »Menschen gedenken Menschen«, überschrieb die polnische Zeitung »Trybuna« im Mai 2001 einen anerkennenden Bericht über die Erinnerungsarbeit an der Unterelbe. Damals war beschlossen worden, den überlebenden Müttern, unabhängig von bundesweiten Regelungen zur Zwangsarbeiter-Entschädigung, Geld zukommen zu lassen.

Bloß in Fredenbeck will man partout nichts vom Babymord wissen. Hier war Michael Quelle von der VVN-BdA 1998 erstmals vorstellig geworden. Damals behalf der Gemeindedirektor sich mit Lügen und Ausflüchten und behinderte die Recherchen (ND berichtete 21.6.01). Im März 1999 beschloss der Gemeinderat, eine in Arbeit befindliche Dokumentation über den Babymord abzuwarten, ehe man über Gedenkmaßnahmen entscheiden wolle. Als sei Erinnerung eine Sache des richtigen Timings. Sobald absehbar wurde, dass die Publikation des Landkreises erscheinen würde, kündigte man als Termin zum Erinnern das Dorfjubiläum 2006 an. Bis dahin wäre die Sache hoffentlich vergessen.

Vor einem Jahr beriet der Gemeinderat auf Antrag des Grünen Wolfgang Weh erneut. Fürs Gedenken sei kein Geld da, hieß es diesmal. »Ich verstehe gar nicht, wie man einfach 2500 Euro ausgeben kann für tote Kinder«, argumentierte eine Ratsfrau der CDU und brachte damit sogar die Lokalzeitung gegen sich auf. Die Dokumentation liegt mittlerweile vor, und den Fredenbeckern sind die Ausreden ausgegangen. Sie zeigen ihr wahres Gesicht. Die Sprüche, die hinter vorgehaltener Hand längst zu hören bekam, wer sich nach dem »Heim« und der Begräbnisstätte der Kinder erkundigte, stehen inzwischen als Zitate von Ratsmitgliedern in der Zeitung: Die Mütter der ermordeten Kinder seien »leichte Mädchen« und eigentlich froh gewesen, den Nachwuchs auf so bequeme Art loszuwerden. »Wenn dieser Stein aufgestellt wird, kannst du deinen eigenen Grabstein gleich daneben aufstellen«, wurde Wolfgang Weh am Telefon gewarnt. Die Polizei ermittelt gegen den Anonymus, der aussprach, was viele Fredenbecker vornehmer formulieren.

Das »Heim« von Jork-Borstel befand sich direkt neben der Kirche, und der Pastor konnte nicht vermeiden, die Schreie der Kinder zu hören, die dort verkümmerten, verhungerten oder durch vergiftete Milch aus der Welt geschafft wurden. In Fredenbeck lag die Tötungsstätte etwas außerhalb, die Schreie vernahm kein Nachbar, gleichwohl wussten alle im Dorf Bescheid. Nur der Hinrich Burfeindt nicht, der Dorfschulze nicht, der Ortsbürgermeister, der das »Heim« auf Anweisung des Landrats eingerichtet hatte. Sein Vater habe keine Ahnung gehabt, behauptet jedenfalls sein Sohn Johann (67), der heutige CDU-Bürgermeister. Niemand war bisher auf den Gedanken verfallen, ihn persönlich haftbar zu machen für die Geschichte, aber offenbar identifiziert er sich mit seinem Amtsvorgänger. Würde der Landrat heute verfügen, dass »Ausländerkinder« in Fredenbeck einzupferchen und verkommen zu lassen seien - würde der Bürgermeister Folge leisten und später nichts davon wissen wollen? Und darauf vertrauen, dass alle im Ort dicht hielten, bis ins übernächste Glied?

Das verheerende öffentliche Echo hat den Rat von Fredenbeck nicht zur Einsicht, aber zur Besinnung gebracht. Im September beschloss die CDU-Mehrheit einen Stein mit einer Inschrift für »alle Frauen und Kinder«, die Opfer des NS-Regimes wurden. Wolfgang Weh und die SPD-Fraktion wollten zunächst einen zweiten, durch Spenden finanzierten Stein den Namen der Ermordeten aufstellen. Um des Dorffriedens willen hat sich die SPD nun mit der CDU auf einen Stein geeinigt, der unter der Überschrift »Den hier verstorbenen Müttern und Kindern« nur die Vornamen der Kinder tragen soll. »Durch diese Inschrift«, sagt Michael Quelle, »wird den Opfern auch weiterhin die eigene Identität genommen.«

Uwe Ruprecht