In Buxtehude bei Hamburg, wo sich der märchenhafte Wettlauf zwischen
Hase und Igel zugetragen haben soll, findet ein anderes Wettrennen statt:
zwischen Geschichte und Legende. Wie es scheint, hat sich die Geschichte
zu Tode gehetzt. Man könnte auch sagen: Sie ist gar nicht angetreten.
Nach der Auflösung der Garnison von Buxtehude 1994 wurde die Estetalkaserne
in ein Wohngebiet umgewandelt, dessen Hauptstraße nach der Pazifistin
Bertha von Suttner benannt ist. Die Konversion der Kaserne wurde am 9. Mai
abgeschlossen durch die Einweihung des »Friedensplatzes« auf dem
alten Exerzierplatz. Zugleich wurde ein Gedenkstein eingeweiht, der an den
22. April 1945 erinnert. An den Tag, besagt die Legende, soll Buxtehude
»kampflos übergeben« worden sein. Die namentlich geehrten
Offiziere Konteradmiral Siegfried Engel, Kapitän zur See Alexander Magnus,
Hauptmann Hans Haverkamp und Oberleutnant Karl Halaski hätten »unter
Einsatz ihres Lebens Menschenopfer und die Zerstörung der Stadt
verhindert«. An der Inschrift stimmen nur die Namen.
Der Stadtarchivar hatte mehr als drei Jahre Zeit, die Vorgänge
aufzuklären, die zum Kriegsende in Buxtehude führten. Er und der
Rat der Stadt haben sich mit einer Legende zufrieden gegeben, die nach drei
Tagen flüchtiger Recherche zusammenbricht. Die Legende stützt sich
auf »Zeitzeugenberichte«, Darstellungen der kommandierenden Offiziere
selbst, die allen Grund hatten, ihre eigene Rolle schon zu färben.
Widersprüche springen sofort ins Auge. Die Zeugen sind sich nicht einmal
einig, wer zum Zeitpunkt der Kapitulation vor der britischen Armee Kommandant
in Buxtehude war und wer die Verhandlungen führte. Eine Anfrage ans
Public Records Office in London, um zu erfahren, was die Briten über
die Einnahme der Stadt zu sagen haben, ist nie erfolgt.
Man hat sich verlassen auf die Schilderung der Ereignisse, die der Initiator
des Gedenksteins gibt. Hans-Georg Freudenthal, ehemals Bürgermeister
der Stadt, war 1945 zwölf Jahre alt. Auf ihn allein stützt sich
die Behauptung, die Geehrten hätten »unter Einsatz ihres Lebens«
die Waffen gestreckt. »Einige junge SS-Leute, die noch an den Endsieg
glaubten«, erzählt Freudenthal, seien »eingeschlossen«
worden, »damit der Jeep mit der weißen Fahne die Kaserne verlassen
konnte«. Man muss nichts Genaues wissen wollen, um Hörensagen und
Kindheitserinnerungen zu vertrauen.
Angeblich hätten die vier Geehrten »monatelang« die Kapitulation
vorbereitet. Laut Legende bestand der Kreis um Admiral Engel geradezu aus
Widerstandskämpfern. Gleichwohl »hatten wir nicht die Absicht,
uns verräterisch zu betätigen, sondern lediglich zu planen, was
uns zu tun möglich sein würde«, betont Karl Halaski in seiner
Aussage. Nicht Verrat an der deutschen Sache oder Friedensliebe ließ
sie aufgeben, sondern weil »wir in keiner Weise uns gegen einen Angriff
verteidigen« konnten. Auch laut Alexander Magnus sei es darum gegangen,
»den aussichtslosen Kampf mit lächerlichen Mitteln (...) zu
verhindern«.
Gleichwohl zückten sie nicht sofort die weiße Fahne, als die
britischen Panzer anrollten. Vielmehr bauten sie Verteidigungsstellungen
auf. Soldaten mit Panzerfäusten wurden in Schützengräben
geschickt; es kam zu Schießereien. Drei Tage lang hielten die Briten
Buxtehude eingekesselt, bevor Engel und Konsorten aufgaben. Dass die Briten
trotz überwältigender Übermacht die Stadt nicht früher
einnahmen, spricht der Behauptung des Gedenksteins Hohn, die Geehrten
hätten »Menschenopfer und die Zerstörung der Stadt
verhindert«. Das unterstellt den Briten einen Vernichtungswillen, den
sie offenkundig nicht hatten.
Ist schon ihr Tun zweifelhaft, sind wenigstens zwei der Geehrten überhaupt
nicht ehrenwert. Alexander Magnus soll nach Angaben des Bundesarchivs in
Ludwigsburg an der Deportation von Juden aus Korfu beteiligt gewesen sein.
Sicher ist, dass er exakt 59 Jahre vor seiner Huldigung, am 9. Mai 1944,
in Patras zehn gefangene griechische Zivilisten erhängen ließ
als »Sühnemaßnahme« für einen Partisanenüberfall.
Engel war als »2. Admiral der Nordsee« verantwortlich für
wenigstens 54 Todesurteile gegen Deserteure am Marinegericht in Wilhelmshaven.
Er äußerte zwar Bedenken gegen die »Feststellung der
Fahnenflucht« im Urteil gegen den 30-jährigen Marinesoldaten Heinrich
Schoon, das am 16. März 1945 verhängt wurde, fand diese aber
»nicht ausschlaggebend«. »Bei der wiederholten
Straffälligkeit des Angeklagten« befand der Konteradmiral,
»verdient dieser keine Gnade.« Am 27. April wurde Schoon erschossen
- nachdem Engel selbst in Buxtehude zum Deserteur geworden
war. |