Berlin, 20. Jg., Nr. 12, 12. Juni 2003
blick nach rechts . onlineblick nach rechts . online
Gesponnene Legende
Ein Admiral, der Todesurteile über Deserteure verhängte, wird in Buxtehude für seine Fahnenflucht geehrt.

In Buxtehude bei Hamburg, wo sich der märchenhafte Wettlauf zwischen Hase und Igel zugetragen haben soll, findet ein anderes Wettrennen statt: zwischen Geschichte und Legende. Wie es scheint, hat sich die Geschichte zu Tode gehetzt. Man könnte auch sagen: Sie ist gar nicht angetreten.
Nach der Auflösung der Garnison von Buxtehude 1994 wurde die Estetalkaserne in ein Wohngebiet umgewandelt, dessen Hauptstraße nach der Pazifistin Bertha von Suttner benannt ist. Die Konversion der Kaserne wurde am 9. Mai abgeschlossen durch die Einweihung des »Friedensplatzes« auf dem alten Exerzierplatz. Zugleich wurde ein Gedenkstein eingeweiht, der an den 22. April 1945 erinnert. An den Tag, besagt die Legende, soll Buxtehude »kampflos übergeben« worden sein. Die namentlich geehrten Offiziere Konteradmiral Siegfried Engel, Kapitän zur See Alexander Magnus, Hauptmann Hans Haverkamp und Oberleutnant Karl Halaski hätten »unter Einsatz ihres Lebens Menschenopfer und die Zerstörung der Stadt verhindert«. An der Inschrift stimmen nur die Namen.
Der Stadtarchivar hatte mehr als drei Jahre Zeit, die Vorgänge aufzuklären, die zum Kriegsende in Buxtehude führten. Er und der Rat der Stadt haben sich mit einer Legende zufrieden gegeben, die nach drei Tagen flüchtiger Recherche zusammenbricht. Die Legende stützt sich auf »Zeitzeugenberichte«, Darstellungen der kommandierenden Offiziere selbst, die allen Grund hatten, ihre eigene Rolle schon zu färben. Widersprüche springen sofort ins Auge. Die Zeugen sind sich nicht einmal einig, wer zum Zeitpunkt der Kapitulation vor der britischen Armee Kommandant in Buxtehude war und wer die Verhandlungen führte. Eine Anfrage ans Public Records Office in London, um zu erfahren, was die Briten über die Einnahme der Stadt zu sagen haben, ist nie erfolgt.
Man hat sich verlassen auf die Schilderung der Ereignisse, die der Initiator des Gedenksteins gibt. Hans-Georg Freudenthal, ehemals Bürgermeister der Stadt, war 1945 zwölf Jahre alt. Auf ihn allein stützt sich die Behauptung, die Geehrten hätten »unter Einsatz ihres Lebens« die Waffen gestreckt. »Einige junge SS-Leute, die noch an den Endsieg glaubten«, erzählt Freudenthal, seien »eingeschlossen« worden, »damit der Jeep mit der weißen Fahne die Kaserne verlassen konnte«. Man muss nichts Genaues wissen wollen, um Hörensagen und Kindheitserinnerungen zu vertrauen.
Angeblich hätten die vier Geehrten »monatelang« die Kapitulation vorbereitet. Laut Legende bestand der Kreis um Admiral Engel geradezu aus Widerstandskämpfern. Gleichwohl »hatten wir nicht die Absicht, uns verräterisch zu betätigen, sondern lediglich zu planen, was uns zu tun möglich sein würde«, betont Karl Halaski in seiner Aussage. Nicht Verrat an der deutschen Sache oder Friedensliebe ließ sie aufgeben, sondern weil »wir in keiner Weise uns gegen einen Angriff verteidigen« konnten. Auch laut Alexander Magnus sei es darum gegangen, »den aussichtslosen Kampf mit lächerlichen Mitteln (...) zu verhindern«.
Gleichwohl zückten sie nicht sofort die weiße Fahne, als die britischen Panzer anrollten. Vielmehr bauten sie Verteidigungsstellungen auf. Soldaten mit Panzerfäusten wurden in Schützengräben geschickt; es kam zu Schießereien. Drei Tage lang hielten die Briten Buxtehude eingekesselt, bevor Engel und Konsorten aufgaben. Dass die Briten trotz überwältigender Übermacht die Stadt nicht früher einnahmen, spricht der Behauptung des Gedenksteins Hohn, die Geehrten hätten »Menschenopfer und die Zerstörung der Stadt verhindert«. Das unterstellt den Briten einen Vernichtungswillen, den sie offenkundig nicht hatten.
Ist schon ihr Tun zweifelhaft, sind wenigstens zwei der Geehrten überhaupt nicht ehrenwert. Alexander Magnus soll nach Angaben des Bundesarchivs in Ludwigsburg an der Deportation von Juden aus Korfu beteiligt gewesen sein. Sicher ist, dass er exakt 59 Jahre vor seiner Huldigung, am 9. Mai 1944, in Patras zehn gefangene griechische Zivilisten erhängen ließ als »Sühnemaßnahme« für einen Partisanenüberfall.
Engel war als »2. Admiral der Nordsee« verantwortlich für wenigstens 54 Todesurteile gegen Deserteure am Marinegericht in Wilhelmshaven. Er äußerte zwar Bedenken gegen die »Feststellung der Fahnenflucht« im Urteil gegen den 30-jährigen Marinesoldaten Heinrich Schoon, das am 16. März 1945 verhängt wurde, fand diese aber »nicht ausschlaggebend«. »Bei der wiederholten Straffälligkeit des Angeklagten« befand der Konteradmiral, »verdient dieser keine Gnade.« Am 27. April wurde Schoon erschossen - nachdem Engel selbst in Buxtehude zum Deserteur geworden war.

Uwe Ruprecht